Ich Borg

Die Zeiten, in denen die Seebären mit ihren Holzbeinen die Straßen der Küstenstädte unsicher machten sind vorbei. An die Stelle der geschnitzten Prothesen sind High-Tech Produkte getreten, die ihren natürlichen Vorbildern in vielen Punkten kaum noch nachstehen und diese teilweise schon übertrumpfen.

Lahme können wieder laufen, und zwar so schnell, dass die Gesunden kaum mithalten können, Blinde wieder sehen und Taube wieder hören.

Bereits heute ist der Herzschrittmacher etwas so natürliches in unserer Gesellschaft, dass er kaum noch als Fremdkörper wahrgenommen wird. Es sind sogar künstliche Herzen im Einsatz, und die Zeiten, als man die Apparatur in einem Bollerwagen hinter sich herziehen musste sind bereits Vergangenheit. Und all das, wo das Herz noch vor einigen Jahrzehnten als Sitz der Seele angesehen wurde.

Einen Schritt weiter gehen aber noch die Gehirnimplantate, die Epileptikern helfen ihre Anfälle unter Kontrolle zu halten, ein direkter Eingriff in das Organ, das unser ganzes selbst ausmacht. Daneben gibt es Versuche an Blinden, bei denen die optischen Eindrücke unter Umgehung des Auges übertragen werden sollen und das Cochlea-Implantat, das in der Gehörschnecke direkt den Hörnerven reizt.

All das macht den Menschen zu einem Geschöpf aus weit mehr als nur von Fleisch und Blut. Tatsächlich kommen immer mehr Erweiterungen hinzu, bei denen darüber zu streiten ist, ob sie nicht vielleicht als ein Teil des Menschen angesehen werden müssen, das gilt um so mehr je höhergestellt die jeweils wieder hergestellte Funktion zu bewerten ist.

Aber bereits heute haben wir aber das Problem, dass die Medizin an ihren Patienten nur die zu korrigierenden Fehler sieht, aber der Mensch selbst mehr und mehr aus dem Blickfeld gerät. Es besteht eine Gefahr darin, überall die faszinierenden Fortschritte die Forschung und Medizin machen die Bedürfnisse des Menschen zu vernachlässigen.

Körperliches Funktionieren ist nur ein Teilaspekt unseres Daseins, der zweifellos nicht gering zu werten ist, aber soziale Fähigkeiten sind mindestens ebenso wichtig.

Gesundheit wird in unserer Gesellschaft über die Abwesenheit von Krankheiten und Gebrechen definiert, das ist die Sichtweise der Gesunden. Viele, die diesem Bild nicht entsprechen fühlen sich aber trotzdem nicht krank, ob sie im Rollstuhl sitzen oder gehörlos sind. Diese Menschen begreifen ihre Gesundheit als seelische und körperliche Zufriedenheit. Die Abwesenheit von Schmerzen gehört zweifellos dazu, aber weil das ein oder andere Körperteil nicht so zu gebrauchen ist wie bei der Mehrzahl der Bevölkerung ist das noch lange kein Merkmal von Krankheit.

In einer Gesellschaft, die von einer Fitnesswelle nach der anderen überschwemmt wird, in der Medikamente in Nahrungsmitteln schon fast zum Alltag gehören wird der gerade erwähnte Aspekt grob unterschätzt.

Als Beispiel will ich nur einmal die Kultur der Gehörlosen anführen, hier ist die Mehrheit von den Segnungen der modernen Medizin, insbesondere vom Cochlea-Implantat ganz und gar nicht überzeugt. Es wird befürchtet, dass das Implantat ihre Kultur und Gemeinschaft kaputt macht. Ganz zu schweigen davon, dass für einen großen Teil eben nicht die Teilhabe an der "Gesunden" Gesellschaft möglich macht. Die Gehörlosen sind gesund, und fühlen sich auch so, wenn ihnen von den "Gesunden" nicht gerade etwas anderes eingeredet worden ist.

Der ein oder andere Leser wird am Titel dieses Artikels schon erkannt haben, dass ich auf Isaak Asimovs Kurzgeschichte "I Robot" anspiele, die die Entwicklung eines Roboters zum Menschen beschreibt. Wir stehen heute vor einer ganz anderen Entwicklung, wir werden zu Borg, Humanoiden, die mit technischen Geräten ihre körperliche Leistungsfähigkeit zunächst wieder herstellen und später auch verbessern werden. Nun, wir werden keine Roboter werden, zumindest nicht in absehbarer Zukunft, auch wenn einige Forschung diese Auffassung vehement vertreten.

Das Verbessern mag hier befremdlich klingen, aber wenn ich an eine Unterhaltung mit anderen Physikstudenten denke und mich an die Begeisterung für Gehirnimplantate für Datenspeicherung und Internetanbindung erinnere, kann ich mir gut vorstellen, dass viele Menschen durchaus bereit sind, ihren unzulänglichen Körper zu verbessern.

Aber warum ist diese Entwicklung abzulehnen, ist es nicht toll, wenn körperliche Gebrechen geheilt werden können, sollte es nicht jedem selbst überlassen werden zu entscheiden, ob er seinen Körper aufrüsten möchte?

Leider zeigt uns die Gesellschaft ein anderes Bild. Wo das Funktionieren sichergestellt werden kann, wird die Abweichung von der Norm nicht mehr akzeptiert. In dieser Gesellschaft besteht keine Notwendigkeit mehr für Toleranz, weil Abweichungen korrigiert werden können, das kann nicht das Ziel sein.

Mensch sein, das bedeutet aber nicht, perfekter Mensch zu sein, sondern vor allem auch darin die Unvollkommenheit im Gegenüber anzuerkennen. Wenn ich einem behinderten Menschen gegenübersitze, will dieser in der Regel nicht mein Beileid, wird wahrscheinlich eher Ärgerlich, wenn ich zuviel davon zeige, sondern, dass ich ihn wie einen Mitmenschen behandle. Ich befürchte, dass diese Fähigkeit im Gegenüber einen Menschen und nicht den Behinderten zu sehen schon in der heutigen Gesellschaft nicht sehr ausgeprägt ist. In der Zukunft aber werden wir nicht einmal mehr den Behinderten sehen, sondern nur noch ein Subjekt, dessen Mängel mit Medizin und Technologie abgestellt werden müssen, um ihn zu einem Teil der normalen Gesellschaft zu machen.

Medizin und Forschung machen Fortschritte, von denen wir uns heute noch gar keine Vorstellung machen können, man wird Krankheiten heilen, von denen wir uns noch gar keinen blassen Schimmer haben. Ich will den Fortschritt deshalb auch nicht verteufeln, aber ich plädiere für eine kritische Sichtweise, die nicht nur die Fehlerbehebung im Auge hat, sondern auch den Menschen und seine Bedürfnisse, die über das funktionieren hinausgehen.

Das ist das Wesen der Menschlichkeit, den Menschen als ganzes zu sehen, der mehr ist, als die Summe seiner Teile.

Und das ist der Grund, warum die Borg niemals Perfektion erreichen werden, ganz gleich wie viele Spezies sie assimilieren, denn dazu gehört auch die Akzeptanz der Unvollkommenheit.


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