Eines der bekanntesten Fabelwesen ist zweifellos das Einhorn, aber auch Drachen, der Grief und der Phoenix gehören zu den Vertretern dieser mysteriösen Wesen. Nicht immer ist der Ursprung dieser Tiere in der Mythologie ganz klar, er beruht teilweise auf Aberglauben und zum anderen womöglich auf der Interpretation von Knochenfunden, die nach damaligem Kenntnisstand nicht eingeordnet werden konnten. Das deutet schon an, dass die meisten Fabelwesen aus dem Mittelalter stammen, aber auch in der Science-Fiction Tauchen immer wieder Lebensformen auf, die man getrost in diese Kategorie einordnen kann.
Sowohl die alten als auch die neuen Falbelwesen haben aber gemeinsam, dass ihre Aussage über den jeweiligen Ursprung hinausgeht und ihnen psychologische Bedeutungen zugewiesen werden können, die interessante Rückschlüsse über den sozialen und kulturellen Hintergrund zulassen, in denen diese Wesen entstanden sind. Oft sind die Symbole, die ein solches Tier ausmachen tief im Unterbewusstsein der Gemeinschaft verwurzelt, aus dem das Wesen stammt, sodass hier quasi ein Blick auf das kollektive Unterbewusstsein einer Gesellschaft geworfen werden kann, wie es von C. G. Jung postuliert worden ist.
Das Einhorn im mittelalterlichen Europa ist zweifellos ein Symbol für Reinheit und Unschuld, aber auch das phallische des Einhorns ist unverkennbar. Die heutige Deutung hat sich allerdings auch erst entwickeln müssen, und das Einhorn wurde nicht immer positiv gesehen sondern hatte zeitweise auch Attribute des Bösen oder des Teufels.
Erste Erwähnungen findet das Einhorn schon in der Antike und ist möglicherweise auf griechische Berichte zurückzuführen, die sich auf indische Nashörner beziehen. Allerdings scheint den Griechen der Unterschied zwischen Nashorn und Einhorn durchaus klar gewesen zu sein, da sie unterschiedlich beschrieben werden, was noch einige Fragezeichen stehen lässt. Die Vermutung, dass das Einhorn auf den Narwal mit seinem markanten Zahn zurückgeht, stimmen jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, denn der Narwal wird erst im 13.Jahrhundert erwähnt, und da trieb das Einhorn in Europa schon einige hundert Jahre sein Unwesen, außerdem wird er als Einhorn der Meere klar identifiziert und vom Landtier unterschieden. Auf den ersten Blick scheint es sich um ein Pferd mit Horn zu handeln, doch wird es Paarhufer beschrieben und gelegentlich auch mit Ziegenbart – was wohl auf seine zeitweise teuflische Abstammung zurückzuführen ist.
Das Einhorn ist aber kein europäisches Phänomen, es ist auch in anderen Kulturkreisen bekannt. Das chinesische Einhorn "K’i-lin" zum Beispiel soll 2697 v. Chr. zum ersten Mal aufgetaucht sein und hat angeblich im 6. Jh. v. Chr. die Geburt Konfuzius angekündigt. In den Farben des Regenbogens leuchtend ist es in China der Verkünder wichtiger Botschaften, und gilt auch dort als Zeichen von Weisheit. In Japan weist man dem Einhorn "Kirin" einen hohen Gerechtigkeitssinn zu, in Indien ist es Symbol der Zeugungskraft und wird teilweise auch mit zwei Hörnern dargestellt, und in Persien ist das Einhorn "Shadhahvar" ein Symbol höchster Grausamkeit, wie das europäische Einhorn konnte auch das Persische nur von Jungfrauen gebändigt werden. Die Negative Darstellung in Persien ist allerdings nicht verwunderlich, wenn man weiß, dass Alexander dem Großen ein einhörniges Reittier namens "Bukephalos" hinzugedichtet wurde, mit dem er Persien 334 v. Chr. heimsuchte.
Das Einhorn und andere Fabelwesen kann man vielleicht mit den Archetypen in Verbindung bringen, die C. G. Jung in seiner analytischen Therapie und Traumdeutung eingeführt hat. Natürlich hat jeder Mensch ganz individuelle Träume, die sich nicht einfach mit einem Nachschlagewerk deuten lassen, es muss der individuelle Zusammenhang berücksichtigt werden, aber einige Symbole sind in einem Kulturkreis weit verbreitet und mit weitgehend ähnlicher symbolischer Bedeutung versehen.
Dazu gehören auch die zahlreichen Fabelwesen, die man zu den von Jung aufgeführten Archetypen zählen kann. Laut Jung entstammen diese Archetypen einem kollektiven Unterbewusstsein, das alle Menschen verbinden soll. Jung war Mystiker und damit erklärt sich auch dieser Erklärungsansatz. Aber abgesehen davon, dass es hier keine Verbundenheit braucht, weil Meschen im gleichen Kulturkreis durch ihre Sozialisation – also die Geschichten und Märchen, die sie hören (oder Fernsehserien, die sie sehen) – einen Grundschatz an Symbolen und Bedeutungen aufbauen, der keine mystische Verbindung zwischen den Individuen benötigt, ist das kollektive Unterbewusste ein nützliches Hilfsmittel beim Versuch, die Fabelwesen zu verstehen.
Ein weiteres Beispiel für ein Fabelwesen mit – nur auf den ersten Blick - sehr konträren Eigenschaften in zwei unterschiedlichen Kulturkreisen ist der Drache in Europa und China. Allerdings muss man hier differenzieren. Der Drache ist auch in Europa nicht ausschließlich negativ besetzt. Bei den Kelten stand er für Führungsqualität und Reinheit und in der Artussage stellen eine weißer und ein roter Drache die Energie der Erde und die Kraft des Lebens dar. Häufig sind in Europa aber auch die Sagen von Kämpfen gegen Drachen, die hier oft einen symbolischen Kampf gegen Urängste und Gefahren darstellen. Die Abstammung des Drachen liegt im Dunklen, zwar leitet sich das Wort aus dem griechischen "drakon" für eine große Schlange. Flügel und Beine müssen demnach später hinzugekommen sein. Dass die Drachengestalt eine prähistorische Erinnerung unser Vorfahren sei, die noch in der Gegenwart von Dinosauriern lebten, ist mit ziemlicher Sicherheit auszuschließen, aber dass Fossilienfunde die Gestalt und Darstellungen von Drachen beeinflusst haben ist nicht auszuschließen.
Schaut man sich die Mythologien der ursprünglichen Drachen genauer an, dann haben sie eine starke Verbindung zum Wasser und das in vielen Kulturkreisen. Chinesische Drachen sollen den regen kontrollieren, aber auch der Englische Knucker haust in einem Wasserloch – genauso wie Nessy im Loch Ness, und die indischen Nagas, von denen die chinesischen Drachen wahrscheinlich abstammen, werden regelmäßig mit Wasser in Verbindung gebracht. Die negative Darstellung des Drachen im europäischen Raum scheint damit erst späteren Ursprungs zu sein, womöglich ist die Christianisierung Europas eine Ursache für die Umdeutung dieses archetypischen Symbols, denn schließlich ist die Schlange im Paradies ein vorfahre des Drachen – und wurde vielleicht genau deswegen als Verführerin eingebaut. Die Tötung des Drachen wurde damit auch zu einem Zeichen des Sieges des Christentums über die heidnischen Bräuche.
In Mittelamerika gibt es außerdem Quetzalcóatl, die gefiederte Schlange, den Gott von Himmel und Erde, er ist ein Gott der Dualität und er vereint das Höchste und Niedrigste in einem Körper (Federn und Schlangenkörper). Er drückt damit die scheinbare Fähigkeit der Schlangen aus, Leben und Tod zu verbinden in dem Sie sich häuten und scheinbar wiedergeboren werden. Diese Fähigkeit ist von grundlegender Bedeutung für die Fähigkeiten und Eigenschaften der Schlangen oder drachenartigen Fabeltiere.
Fabelwesen erzählen uns viel von unseren unterschwelligen Sichtweisen und zeigen eine Verbindung zur Geschichte des Kulturkreises, in dem sie gefunden werden. Trotz oberflächlicher Unterschiede gibt es aber auch immer wieder Verknüpfungen zwischen ganz unterschiedlichen Regionen, aus denen die Fabelwesen stammen, die durchaus auf einen weiter zurückliegenden Austausch zwischen den Kulturen hindeuten können. Ein kollektives Unterbewusstsein scheint demnach in den Überlieferungen der Welt zu existieren, und es lässt sich nachvollziehen in der Genealogie der Fabelwesen.
Fabeltiere. Von Drachen, Einhörnern und anderen mythischen Wesen (von John Cherry)